Zweimal bei Frau Müller

Beitragsbewertung:
[Gesamtzahl der Bewertungen: 0 | Durchschnitt: 0]

Etwa sechs Monate zuvor war ich schon im selben Haus gewesen. Da wurde ich zu einer Frau Müller gerufen. Ich klingelte, der Türsummer erklang und wenig später stand ich im fünften Stock. Eine ältere, offenbar demente Dame öffnete. “Grüß Gott”, sagte ich, “ich bin der Arzt der gerufen wurde.”

Ich vermeide es grundsätzlich auf Hausfluren auszusprechen, warum ich da bin. Ein Sterbefall ist eine sehr persönliche und familiäre Angelegenheit. Und neugierige Nachbarn müssen nicht mithören. Sie müssen nicht mithören, dass die aufgesuchte Familie einen traurigen Verlust hinnehmen musste. Die Familien haben mich ja angefordert. In der Regel versteht sich somit von selbst, warum ich da bin.

“Ah, sie sind Arzt, kommen Sie herein”, sagte Frau Müller. “Ich wollte ohnehin demnächst zum Hausarzt. Schön, dass Sie mich besuchen.” Frau Müllers Reaktion machte mich stutzig. Also fragte ich vorsichtig nach, dass ich doch wegen einer Leichenschau da sei. “Leichenschau?” fragte Frau Müller, “ich brauche ein Rezept für Tabletten. Kommen Sie herein.”

Mir wurde klar, dass ich vor der falschen Wohnung stehe. Also fragte ich telefonisch nach: “Ach, da sind sie falsch, wir sind die Müllers aus dem dritten Stock!”

Also verabschiedete ich mich von Frau Müller im fünften Stück und führte die Leichenschau bei Müllers aus dem dritten Stock durch.

Selbe Adresse und wieder zu Müller

Sechs Monate später fuhr ich wieder zur selben Adresse, wieder zu Müller. Diesmal aber tatsächlich zu Frau Müller aus dem fünften Stock.

Sie war an den Folgen multipler Erkrankungen verstorben. Während der vergangenen Monate hatte sie stark abgebaut. Sie wurde bettlägerig und von einem Pflegedienst versorgt.

Vorsichtiger mit Fremden sein!

Mich hat lange beschäftigt, dass mich die alte Dame einfach in ihre Wohnung gebeten hätte. Sie kannte mich nicht. Sie hatte auch keinen Arzt angefordert. Kriminelle hätten ein leichtes Spiel mit ihr gehabt. Ich hatte sie noch aufgefordert, vorsichtiger mit Fremden zu sein. Doch wegen ihrer Demenz hatte sie wohl nicht verstanden, was ich meine.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Zurück nach oben
Visit Us
Follow Me
Tweet
Whatsapp
Share