Tote Mutter gefüttert

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Frau Seitz war an ihrem Krebsleiden verstorben. Erwartbar, erklärbar – somit war der Fall zunächst eher der Routine zuzuordnen. Der Notarzt wurde gerufen. Und der konnte Frau Seitz nicht mehr helfen. Nachdem der nächste Angehörige, nämlich der Sohn Thomas anwesend war, sollte er sich um Leichenschau und Bestatter kümmern.

Thomas verstand aber nicht, dass seine Mutter tot war. Er merkte aber, dass es ihr nicht gut zu gehen schien. Deshalb rief er erneut den Rettungsdienst. Letzterer konnte natürlich auch nichts mehr ausrichten und fuhr wieder.

Kurze Zeit später folgte erneut der Notruf: seiner Mutter gehe es nicht gut. Sie sei bewusstlos geworden. Erneut begaben sich Notfallsanitäter zum Einsatzort. Die alte Dame war und blieb tot.

Also informierten die Sanitäter den ärztlichen Bereitschaftsdienst zur Leichenschau. Und sie zogen einen Notfallseelsorger hinzu. Der Seelsorger traf wenig später ein. Der Arzt jedoch ließ die nächsten Stunden auf sich warten. Also warteten Sohn Thomas und der Seelsorger gemeinsam.

Dabei drängte Thomas darauf, dass seine Mutter ins Krankenhaus gebracht werde. Sie habe nur kleine Probleme mit den Gelenken. Ein Krebsleiden sei nicht bekannt. Und dies, obwohl nicht nur eindeutige Diagnostik vorlag, sondern der Tumor auch durch die Haut gebrochen war. Er war deutlich sichtbar.

Erst als ein Freund der Familie eintraf wurde klar: Sohn Thomas wirkte auf ersten Blick normal. Er war ein stattlicher Mann von 39 Jahren. Doch aufgrund einer Hirnschädigung im Kindesalter war er geistig nicht voll entwickelt.

Wasser und Tabletten für die Mutter

Unterdessen versuchte Thomas seiner toten Mutter Wasser einzuflößen. Und er gab ihr ihre Medikamente. Zumindest versuchte er es, denn die Leichenstarre war im Kieferbereich bereits eingetreten.

Nachdem nach Stunden der Bereitschaftsarzt noch immer nicht eingetroffen war, wurde ich mit der Leichenschau beauftragt.

Die Leichenschau war nicht einfach durchzuführen. Denn Thomas wollte nicht verstehen, warum Auskultation und EKG nicht zur Leichenschau gehört. Er verstand nicht, dass ich keine Reanimation einleite. Er verstand nicht, dass ich die tote Frau nicht ins Krankenhaus bringe.

“Dann sieht sie ja nichts mehr.”

Auf die Frage, ob ich der Mutter die Augen schließen solle, protestierte er vehement: “Dann sieht sie ja nichts mehr.”

Auch wenn er nicht verstand, dass seine Mutter tot war, für ihn war klar: er wollte zusammen mit ihr im Leichenwagen zum Friedhof fahren und bei ihr bleiben.

Schwieriger als die eigentliche Leichenschau war: was machen wir mit Thomas. Es stellte sich heraus, dass die Mutter nur bis Wochen vor ihrem Tod relativ fit gewesen war. Sie war Thomas einzige Verwandte, Vertraute und Betreuerin. Ein Pflegedienst hatte sie durch ihre letzten Tage begleitet und sich auch um Thomas gekümmert.

Thomas blieb allein zurück.

Die Mutter war tot. Der Pflegedienst kam nicht mehr. Und Thomas blieb allein zurück. Er war nicht in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern.

Mitarbeiter des Sozialamts waren schnell zur Stelle und organisierten eine Notbetreuung. Er sollte via Krankenwagen dorthin gebracht werden. Doch er begriff nicht, dass es primär um sein Wohlbefinden ging. Und seine Mutter konnte ihn natürlich nicht begleiten.

Stefan Hartl

Jahrgang 1979. 2 Kinder. Arzt seit 2006. Facharzt für Anästhesie, Notfallmedizin, Suchtmedizin, Reisemedizin. Freiberufliche Tätigkeit, u.a. als Leichenschauer, seit 2006. Interessen: Literatur, Reisen.

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