Chocolatier bis zum Tod

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“Ich kann noch nicht gehen,” hatte Andrew Leitner nur wenige Wochen vor seinem Tod gesagt, “auf der Wand ist noch etwas Platz.” Damit meinte er die Wand im Keller, an der er seine Dutzende seiner Auszeichnungen aufhängte. Und tatsächlich: in der oberen rechten Ecke war noch Platz für eine paar weitere Urkunden.

Herr Leitner war Informatiker. Doch er hatte eine ganz Leidenschaft für sich entdeckt. Er besuchte Kochkurse bei renommierten Münchner Lehrern. Dabei fand er heraus, dass er eines noch mehr liebte als das Kochen: und das waren Pralinen.

Er besuchte Kurse, kaufte Ausrüstung und lernte, selbst Pralinen herzustellen. Offenbar war er dabei so talentiert, dass Firmen auf ihn aufmerksam wurden. Sie kauften seine Pralinen für wertgeschätzte Kunden. Oder als Adventskalender, wie ihn Herr Leitner dann alljährlich herstellte.

Aus seinem Informatikerbüro wird eine Chocolaterie

Als Herr Leitner in Rente ging, baute er sein früheres Informatikerbüro im Keller um. Daraus wurde eine Chocolaterie. Er schaffte unzählige Geräte an zum Temperieren von Schokolade, tausende Pralinenformen und Kühlschränke. Sein Stolz war ein Rüttler, um Luftblasen aus der flüssigen Schokolade zu entfernen und jene gleichmäßig zu verteilen. Das Gerät hatte er erst kurz vor seinem Tod erstanden. Seine liebende Frau hatte ihm keinen Wunsch – auch in Angesicht seiner schweren Erkrankung – abschlagen können.

“Dann mache ich eben den Konditormeister.”

Als seine Pralinenproduktion im heimischen Keller Fahrt aufnahm und zahlreiche Abnehmer bereitstanden, legte die Handwerkskammer Widerspruch ein. Denn Pralinen gewerblich zu produzieren und vermarkten steht nur Handwerksmeistern zu. Also sagte sich Herr Leitner: “Dann mache ich eben den Konditormeister.” Mit 63 Jahren legte er die Meisterprüfung ab.

Die folgenden Jahre perfektionierte Herr Leitner seine Pralinenproduktion. Bei der Handwerkskammer reichte er jeweils drei seiner Kreationen ein und wurde über Jahre mit der goldenen Auszeichnung prämiert. Er bot sogar Kurse für Interessierte in seinem Chocolaterie-Keller an.

Im Sommer 2021 verstarb Herr Leitner. Und ich wurde mit der Leichenschau beauftragt. Dabei durfte ich kurz Einblick erhalten in das Leben dieses interessanten Mannes. Ich danke seiner Ehefrau für die ausführlichen Erzählungen in diesen schweren Stunden.

Leider hat Herr Leitner es nicht mehr geschafft, die auch das letzte Stück der Wand noch mit Auszeichnungen zu füllen. Es hat mich jedenfalls sehr beeindruckt und inspiriert. Und ich habe mich selbst schon über die Herstellung von Pralinen belesen. Ganz sicher werde ich versuchen, selbst Pralinen herzustellen.

Stefan Hartl

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